" 46 Dienstjahre als Soldat, Minister und Patriot: Jim Mattis über 'leadership' " Rezension von Dr. rer. pol. Heinz Neubauer
‚Trust‘ – Vertrauen – ist die menschliche Eigenschaft, die die 17 Kapitel durchzieht. Gegliedert ist das Buch in drei Abschnitte Direkte (taktische) Führung, Durchführende (operative) Führung und Strategische Führung. - Die rund 250 Seiten umreißen die Erfahrungen, die Jim Mattis in 44 Jahren als Angehöriger der U.S. Marine Corps sammelte, vom Private in der USMC Reserve bis zum Viersterne-General, ehe er von 2017/19 zwei Jahre lang als (ziviler) U.S. amerikanischer Verteidigungsminister diente. Das Buch ist keine Biographie, es ist ein Lehrbuch über Führung, geschrieben in einer Weise, die jeder Staatsbürger, auch außerhalb der Vereinigten Staaten, versteht. Es war fertig, ehe Mattis Verteidigungsminister wurde, es durfte allerdings erst jetzt nach seinem zweiten Zurruhesetzen publiziert werden.
Vertrauen ist das Band, welches den Führer mit den von ihm Geführten verbindet. Das gilt weit über das Militär hinaus, es gilt ebenso für Manager und Staatsmänner, für alle, die Verantwortung tragen, weil und nachdem sie ihnen übertragen wurde. Verantwortung ist unteilbar, aber immer übertragen auf Zeit. Und schließlich bedeutet Führung sichtbares Verhalten und klare Kommunikation. Mit diesem Dreiklang fasst der Rezensent den roten Faden des Buches zusammen: Vertrauen, Verantwortung und (entsprechendes) Verhalten.
Mattis‘ Weg startet im eher ländlichem Bundesstaat Washington, wo er nach dem Schulabschluss seinen beiden Brüdern in die Reservekomponente des USMC folgt. Ohne formellen Abschluss an einem College an der Pazifikküste, also ohne eine Ausbildung in einem Navy Reserve Officer Training Camp parallel zum Studium, wird er durch Leistung aktiver Offizier. Vermutlich hat ihn, den sorgenfreien jungen Mann, die gelebte Disziplin und der harte Drill der Marines immer angespornt. Gleichzeitig fing er an zu lesen, auch weil formale Bildung ihm anfangs ziemlich egal war; er lernt aus der Geistes- und Militärgeschichte, vollzieht das in Büchern geronnene Denken nach und setzt das Wissen im täglichen Dienst ein. Seine Karriere vom ‚rifleman‘ über den Gruppen- und Zugführer stählt seinen Zugang zu denen, die Befehle vorne umsetzen.
Mitten in seiner Zeit als Junior-Offizier, als er als Planer eine Verlegeübung nach Ägypten vorbereitet, geschieht am 11.September 2001 das vorher Undenkbare entlang der Ostküste der USA- und seine Marine Expeditionary Force wird im Indischen Ozean bereitgestellt, um Osama Bin Laden und seine Schergen von Al-qaida zu bekämpfen, Antiterror-Kampf. Und plant er keine amphibische Operation, wie es die zentrale Aufgabe des USMC war und ist, nein, er plant eine luftgestützte Landung in Kandahār, mitten in unwegsamen Gebiet im Süden von Afghanistan. Allerdings kennen amerikanische Ingenieure die Gegend, in der ein ziviler Staudamm einmal geplant wurde, aber nie gebaut wurde. - Ablenkung des Gegners, indem man unerwartet dort angreift, wo es der Gegner nicht erwartet, wird zu seinem Markenzeichen. Der Buchtitel „Rufzeichen Chaos“ beschreibt einen Unterrichtsbesuch, in dem Mattis realisiert, was sein Feldwebel auf die Rückseite der Tafel geschrieben hatte: ‚commander has always an outstanding solution‘. Wenn der Gegner durch das von den eignen Kräften induzierte Chaos völlig verwirrt ist, dann zählen Geschwindigkeit des Handelns und die Anwendung des Gelernten durch einen jeden – ob Infanterist oder Stabsoffizier -, um das eigene Ziel zu erreichen.
Aber schon bei der Verfolgung Osamas in die ostafghanischen Berge (‚Tora Bora‘) lernt Mattis, dass profunder militärischer Rat von den übergeordneten Stäben in den US Streitkräften und der Politik in Washington häufig nur ungern zur Kenntnis genommen wird sowie militärische Optionen hinter einem Schleier von Rhetorik verschwinden.
Als operativ verantwortlicher Divisionskommandeur im zweiten Irakkrieg wird er zweimal zum Anhalten seines Vormarsches angehalten, nicht weil die Marines zu schnell agieren und die US Army sowie die britischen Streitkräfte nicht folgen können, sondern weil „höheren Ortes“ mögliche Chancen nicht erkannt wurden und weil keine strategische Befehlsgebung folgte. – Später dann als Korpskommandeur in der Falludscha-Operation (irakische Provinz Anbar) stoppte ihn dann sein höchster Commander-in-Chief, nämlich Präsident Obama, selbst. Er umschreibt sein jeweils loyales Verhalten als „die einfache Sicht eines Führers im Kampf“, dem viele Einsichten fehlen können, auch weil das Gefecht ohne Pause 24/7 fortzuführen ist. So lernt er als Truppenführer die wesentliche Bedeutung eines ‚Commander’s intent‘ (die Absicht des Kommandeurs, im Heer kurz „die 3.a“), deren textliche Formulierung auch beim Zusammenbruch der Kommunikation im Gefecht die nachgeordneten Führer befähigen, ihren Auftrag nach Kräften zu erfüllen. Mattis bewundert Erwin Rommel und seine Infanterievorschriften sehr („Auftragstaktik“).
Das erworbene Vertrauen, das wird schließlich auch zum Schlüssel seiner Funktion beim Joint Forces Command, welches er im zweiten Jahr seines Dienstes nach reiflichem Nachdenken zusammen mit Verteidigungsminister Gates abschafft, wegen wenig eigener Wertschöpfung für die Teilstreitkräfte… Und am Ende seiner militärischen Karriere ist Vertrauen der Stoff, der den Commander CENTCOM in Tampa Fla. mit über sechzig Verbündeten zum koordinierten Kampf gegen den Terror befähigt, der aus dem Krisenbogen von Zentralasien über die arabische Halbinsel bis nach Nordafrika reicht.
Das Buch endet mit seinem Rücktrittschreiben an Präsident Trump. Er, Mattis, bleibt sich treu, die politische Entscheidung des Commander-in-Chief, die Kurden im Grenzgebiet Syriens, der Türkei und im Irak wollte er nicht mittragen, weil man zu treuen Verbündeten stehen soll. Explizit geschrieben hat er es nicht, eben weil das Buch keine Biographie sein soll, sondern ein Lehrbuch für die Führer von morgen.
JIM MATTIS and Bing West: CALL SIGN CHAOS – Learning to Lead, Random House, New York 2019
(Hardbook ISBN 978-0-8129-9683-8 Ebook ISBN 978-0-8129-9684-5) – ca. 28,00 €
Zum Rezensenten:
Dr. rer. pol. Heinz Neubauer (*1957) hat Wirtschaftsingenieurwesen an der Universität (TH) Karlsruhe sowie am Georgia Institute of Technology in Atlanta (U.S.A.) studiert, war sechs Jahre ehrenamtlicher Sektionsleiter Berlin und neun Jahre Vizepräsident der GSP. Heute ist er als Logistik-Stabsoffizier der Reserve eingeplant beim Einsatzführungskommando der Bundeswehr in Potsdam und arbeitet als Interim-Manager im Real Estate / Facility Management.