Der vernachlässigte General? Das Clausewitz-Bild in der DDR

Betrachtungen über Carl von Clausewitz im anderen Deutschland Rezension von Peter E. Uhde

Literatur und Schrifttum jeglicher Art über Carl von Clausewitz (1. Juli 1780 -16. November 1831) gibt es in unüberschaubarer Menge und in vielen Sprachen. Man sollte glauben, dass hundertneunzig Jahre nach seinem Tod schon alles über den preußischen General geschrieben und gesagt worden ist. Das ist aber nicht so. Dreißig Jahre nach Untergang des sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaates legt Andrée Türpe mit der Arbeit „Der vernachlässigte General? Das Clausewitz-Bild in der DDR“ ein Werk vor, das den Militärtheoretiker aus marxistisch-leninistischer Sicht betrachtet und ihn in die Traditionslinie der Nationalen Volksarmee (NVA) verortet.

Warum das erst dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung und der Auflösung der NVA erfolgt, kann man fragen. Die Antwort ist bei Türpe zu finden. Der letzte Stabschef Oberstleutnant a.D. Klaus-Dieter Krug des Ausbildungszentrums 19 der NVA in Burg, das seit dem 1. März 1986 den Traditionsnamen „Carl von Clausewitz“ trug, erklärte: “Insgesamt spielte Clausewitz bei der Truppe keine Rolle. Auch Kriegsliteratur wurde kaum gelesen. Clausewitz fand nicht statt.“ Anders sah es der Ausbildungsoffizier der Hochschule „Wilhelm Pieck“ Oberst Dr. Herbert Lange in einem Beitrag in „Neue Zeit vom 20. 2.1981, in dem er feststellte: „Das Werk Clausewitz ´Vom Kriege´ gehört zur Studienliteratur an den militärischen Hochschulen.

Dazwischen bewegt sich der Inhalt der „über 40-jährigen ´Clausewitz-Reise` durch den anderen jetzt untergegangenen Staat,“ so Türpe. Wir begleiten den Autor bei seinen historischen Betrachtungen des Clausewitz-Bildes in der DDR. Da er auf wissenschaftliche Publikationen zurückgreift, die er vor mehr als dreißig Jahren zu Clausewitz veröffentlicht hat, schreibt der Verfasser das Buch in der dritten Person.

Einleitend erklärt Andrée Türpe, wie er zur Beschäftigung mit dem Militärreformer Clausewitz kam. Er, Jahrgang 1949, hat Abitur, eine Ausbildung als Diesellokschlosser und Wehrdienst in der NVA geleistet. 1972 beginnt er mit dem Philosophie-Studium an der Humboldt-Universität Berlin und schließt es mit einer Diplomarbeit zu Clausewitz ab. Seitdem hat ihn dessen kriegsphilosophisches Denken nicht mehr losgelassen. 2017 erhielt er den Clausewitz-Preis der Stadt Burg.

Nach einigen einleitenden Anmerkungen zur Clausewitz-Rezeption ist das Buch chronologisch aufgebaut. Es beginnt Ende 1945 in der Sowjetisch Besetzten Zone (SBZ). Einer der ersten Befehle der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) war die Aufforderung, aus allen öffentlichen und wissenschaftlichen Bibliotheken, Buchhandlungen und Verlagen „sämtliche Publikationen, die faschistische und militärische Propaganda […] enthalten, zu entfernen. In einer „Leipziger Liste“ standen in den Jahren 1946, 1948 und 1953 insgesamt 18 Clausewitz-Publikationen. Damit war der militärische Denker aber nicht ganz verstoßen „Eingeschränkt zugänglich“ nennt Türpe die damalige Situation im Umgang mit der Person und dessen Werk.

Dann kam es allerdings zu einem Ereignis, das Clausewitz verbannte. Am 9. Mai 1947 veröffentlichte die Parteizeitung „Neues Deutschland“ auf Seite 4 einen Beitrag des Generalissimus unter fetter Überschrift „Stalin über Clausewitz.“ Aus dem Brief an einen Professor einer Militärakademie, der an einem Werk über die Geschichte der Kriegskunst arbeitete Stalins Meinung zu Clausewitz: „Was Clausewitz im besonderen betrifft, so ist er natürlich als militärische Autorität veraltet.  Clausewitz war schließlich ein Vertreter der Manufakturperiode des Krieges. Wir aber leben jetzt in der mechanisierten Periode des Krieges. Zweifellos braucht die mechanisierte Periode neue militärische Ideologen. Es wäre lächerlich, jetzt bei Clausewitz in die Lehre zu gehen.“ Dieses Machtwort des Generalissimus gegen den Kriegstheoretiker wurde auch in der Sowjetunion veröffentlicht und der preußische General damit im gesamten Einflussbereich marxistisch-leninistischer Militärideologie verbannt.

In Burg, seiner Geburtsstadt, wurde z.B. aus der Clausewitz- die Kantstraße. Eine Gedenkstafel an seinem Wohnhaus in der Großen Brahmstraße 15, welches am 2. Juni 1905 anlässlich seines 125. Geburtstages enthüllt wurde, verschwand über Nacht. Bei heimatgeschichtlich interessierten Bürgern war der bekannteste Sohn ihrer Stadt aber nicht vergessen. 1953 gestalteten die Bürger von Burg eine Ausstellung zum Thema „Das Jahr 1813 in unserer Heimat.“ Hierbei konnte man Clausewitz nicht unbeachtet lassen. Hinzu kam, dass der sowjetische Diktator Stalin am 3. März 1953 gestorben war und in dieser Übergangsphase zu einer neuen Führung sich kaum jemand für Burg und Clausewitz interessiert hatte. Am 140. Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig wurde Clausewitz zum zweiten Mal geboren. Nun beginnt die Zeit des vaterländischen Patrioten Clausewitz, der zum Erfolg der Befreiungsbewegung und zum Abschütteln vom napoleonischen Joch beigetragen hat. Allmählich wurde auch wahrgenommen, dass der politisch denkende Mensch Clausewitz 1812 seinen Abschied aus preußischen Diensten genommen hat und in die kaiserlich-russische Armee eingetreten war. Damit ist er, im Gegensatz zu den anderen Freiheitskämpfern wie Stein, Blücher Scharnhorst, Gneisenau oder Boyen, geradezu prädestiniert als ein Symbol deutsch-russischer Waffenbrüderschaft. Seine Rolle beim Abschluss der Konvention von Tauroggen am 30. Dezember 1812 als Berater im Stab des russischen Befehlshabers Generalmajor Diebitsch wird ebenso positiv bewertet und herausgestellt. Nicht zu übersehen ist allerdings, dass er von den politischen Ideologen des Zentralkomitees der SED folgendermaßen beurteilt wird: „Was Clausewitz im besonderen betrifft, so ist er natürlich als militärische Autorität veraltet“.

Aus der Kasernierten Volkspolizei ist am 1. März 1956 offiziell die Nationale Volksarmee (NVA) geworden. Nun kam die Frage auf, wie für diese neue deutsche Armee historische Traditionslinien erschlossen werden könnten. Im Angebot waren die preußischen Reformer des vorigen Jahrhunderts. Günstig war auch die Abrechnung durch Nikita Chruschtschow auf dem XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) mit der Rolle und dem Personenkult um Stalin. Seine Feststellung: „Zu den Klassikern des Marxismus kann man Stalin nicht rechnen.“

Damit war der Bann gebrochen und es begann eine neue Ära sich mit der Person Clausewitz, seinen Werken und seinem dialektischen Denken zu befasse. Er war sozusagen nun ideologisch und politisch „freigeschaltet“, so Türpe. Eingehend beschreibt der Autor was an Schrifttum im Verlag des Ministeriums für Nationale Verteidigung bis 1959 erschienen ist. Am 8. Mai 1961 erschien in der Berliner Zeitung ein Artikel zur Befreiung Deutschlands vom Hitlerfaschismus. Hierin wird ausgeführt, dass Clausewitz „den Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ bezeichnete. „Lenin präzisierte diese Definition und führte uns zur vollen Erkenntnis des Krieges als Fortsetzung der Politik der herrschenden Klasse des betreffenden Staates,“ erklärt der Verfasser ganz im Sinne des sozialistischen Klassendenkens.

Carl von Clausewitz und seine Ehefrau Marie, geborene Gräfin von Brühl, hatten ihre letzte Ruhestätte auf einem alten Militärfriedhof in Breslau. Anfang 1971 sollte dieser eingeebnet und das Gelände für eine anderen Verwendungszweck genutzt werden. Auf höchster Partei- und Politebene der DDR wurde die Überführung und Beisetzung auf den Ostfriedhof in Burg beschlossen. Eine Begründung dafür wurde formuliert. „Carl von Clausewitz war ein enger Mitkämpfer der preußischen Heeresreformer und deutschen Patrioten Scharnhorst und Gneisenau. Im Befreiungskrieg 1812/13 war er als Generalstabsoffizier der russischen Armee, in die er 1812 aus Protest gegen das schmachvolle preußisch-französische Bündnis eingetreten war, maßgeblich am Abschluss der Konvention von Tauroggen beteiligt […] Das Erbe von Carl von Clausewitz als bürgerlicher deutscher Patriot und Militärmann wird deshalb in der Nationalen Volksarmee in Ehren gehalten.“

 Am 19. November 1971 wurde mit einem offiziellen militärischen Zeremoniell die Gedenkstätte feierlich eingeweiht. Der Direktor des Deutschen Instituts für Militärgeschichte, Oberst Prof. Dr. Reinhard Brühl und der Vorsitzende des Rates des Kreises Burg, würdigten Clausewitz „hinsichtlich seiner praktisch-politischen Aktivitäten und auch als bedeutenden Militärschriftsteller.“ Der Dank an die sowjetischen Freunde durfte in der politischen Festrede nicht fehlen. Das überschwängliche Lob auf den Kriegstheoretiker und Historiker gipfelte in dem Zitat von Friedrich Engels, der Clausewitz „einen Stern erster Größe nannte.“

Brühls Rede erschien danach auch in der Zeitschrift Militärgeschichte.  Dieser Artikel war der erste allein Clausewitz gewidmete, der in einer Militärzeitschrift erschien. Damit begann die Wiedergeburt des Verfassers Vom Kriege, der fortan für Agitation und Propaganda genutzt wurde.

1977 legte Andrée Türpe seine Dissertation zu Carl von Clausewitz der Humboldt-Universität vor. Sie trug den Titel „Carl Philipp Gottfried von Clausewitz, ein Philosoph des Krieges – Eine Analyse seiner philosophischen Positionen.“ Nach seiner Diplomarbeit „Carl von Clausewitz und seine Zeit“ von 1974 war es die zweite, die sich analytisch mit Militärgeschichte und Militärwissenschaft des Generals befasste. Sogar im Kinderbuch „Krieger, Landsknecht und Soldat“, 1979 in dritter Auflage erschienen, wird Clausewitz verewigt. „[..] mit seinem Buch `Vom Kriege` zum ersten Militärtheoretiker geworden, der das Wesen des Krieges philosophisch untersuchte und den Krieg als eine `Fortsetzung der Politik mit andren, das heißt gewaltsamen Mitteln` erkannte. Wieder später hat ihn Lenin studiert und seine Ideen weiterentwickelt.“

Zum 200. Geburtstag 1980 wurde der General besonders populär. Partei- und Militärführung äußerten sich zu ihm, Sonderbriefmarken wurden gedruckt und Gedenkmünzen geprägt. Am 27. Mai eröffnete das Armeemuseum Potsdam eine Sonderausstellung. Auch die Deutsche Staatsbibliothek in Berlin nutzte die Gelegenheit für eine Literaturausstellung, deren Motto lautete „Die NVA – Machtinstrument der siegreichen Arbeiterklasse der DDR.“  Hierbei wurde Schriftmaterial von Clausewitz ausgestellt. Das DDR-Fernsehen strahlte im Abendprogramm den Film „Clausewitz – Lebensbild eines preußischen Generals“ aus. Natürlich ehrte auch seine Heimatstadt Burg ihren großen Sohn, den Patrioten und Waffenbruder, den Kämpfer für den Fortschritt und den genialen Militärtheoretiker.

In den nächsten Jahren wurden Clausewitz und seine Werke in wissenschaftlichen Konferenzen, Tagungen oder Publikationen verstärkt an das Licht der Öffentlichkeit gebracht. Im letzten Teil seines Buches geht der Autor auf das Clausewitz-Bild bis zum Untergang der DDR ein. Hierbei verwendet er Texte aus seinen eingangs erwähnten Arbeitens und stellt u.a. Forschungsresultate dar, z.B. zur Systematik „Vom Kriege“ oder zur Dialektik von „Angriff und Verteidigung.“ Zur Antwort auf die Frage, ob die Clausewitz-Formel noch gilt, sei die Aussage von Erich Honecker aus dem Juni 1986.  „Mit Recht gehen sie davon aus, dass ich, wie in der Vergangenheit so auch in Zukunft in jeder Hinsicht meine Aufmerksamkeit der friedlichen Entwicklung der Beziehungen zwischen unseren Staaten und Völkern widmen werde. Dieses Bestreben bringt die Erkenntnis zum Ausdruck, dass im Atomzeitalter die These des deutschen Militärtheoretikers Clausewitz, der Krieg sei die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, außer Kraft gesetzt ist. In einem atomaren Inferno würde es weder Sieger noch Besiegte geben.“  

Die letzte Etappe der Lesereise durch vierzig Jahre Clausewitz in der DDR ist erreicht. Die Exkursion ist zur Nachahmung empfohlen. Teilnehmer können sich dabei ein Bild über die wechselnde politische Einordnung des Verfassers Vom Kriege in ein nicht mehr vorhandenes Gesellschaftssystem machen.

Türpe, Andrée: Der vernachlässigte General? Das Clausewitz-Bild in der DDR, Christoph Links Verlag, Berlin, 2020, ISBN 978-3-96289-105-5, 35,00 Euro.

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