INTERNATIONALE POLITIK. Das Magazin für globales Denken #4/2ß23 Juli/August

Zeitenwende – Eintreten für eine wehrhafte Demokratie Rezension von Peter E. Uhde

Die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik gibt Interessierten genügend politischen und gesellschaftlichen Lesestoff mit in die Urlaubszeit. Das macht sie mit einer Doppelnummer des Heftes INTERNATIONALE POLITK (Juli/August 2023). Das Magazin für globales Denken hat den Titel: Bitte wenden/Für eine neue Sicht auf den Globalen Süden. Hinzu kommen zwei Spezialausgaben die sich folgenden Themen widmen: Reden mit der Politik/Wie Deutschland die Zeitenwende diskutiert (Nr. 3/2023) und Demokratien unter Druck/Wie Autokraten und Populisten die freie Welt bedrohen (Nr. 4/2023). Zusammen ergeben die drei Hefte mit ihren 260 Seiten einen prall gefüllten Themenmix. Schauen wir hinein und beginnen mit dem Magazin.  

In Bitte wenden geht es schwerpunktmäßig um das Verhältnis zum Globalen Süden. In dieser geographischen Region leben etwa 85 Prozent der Weltbevölkerung, die aber nur 39 Prozent des Welt-Bruttoinlandsprodukts erwirtschaften.

Wie genau der geografische Raum, der als Globaler Süden bezeichnet wird, zu definieren ist, kann auch der Chefredakteur in seinem Editorial nur allgemein anreißen. Im Formulierungszweifel wird auf „der sogenannte“ Globale Süden“ ausgewichen.

Unter dem Oberbegriff Titelthema sind sechs Autoren genannt. Myriam Prys-Hansen versucht in ihrem Beitrag „Was ist der Globale Süden?“ (S. 25) für mehr Klarheit in der Definition zu sorgen. Es bietet sich an, diesen Beitrag zuerst zu lesen und dann auch gleich noch Daten und Fakten (S. 36) anzuschließen.

Shada Islam fordert „Das Ende der Doppelmoral“ (S. 18). Sie meint, wenn Europa in einer multipolaren Welt einen – nicht seinen - Platz behalten will, muss es mit dem Globalen Süden völlig anders umgehen. Das heißt für sie, dass Europa aus seiner Vergangenheit viel lernen muss. Sie bemängelt, das Denken in der Europäische Union über den Globalen Süden, es „bleibt oft postkolonial und eurozentrische verankert“. Die Entwicklungsländer haben besonders mit den wirtschaftlichen Folgen des Ukraine-Krieges zu kämpfen. Durch eigene Probleme mit Rassismus, Rechtsextremismus oder Populismus in den europäischen Staaten, können diese auch nicht als Vorbild gegenüber den Ländern des Globalen Südens auftreten.

Gyula Csurgai nimmt die Lehre vom Vorrang des Allgemeinen aufs Korn. Europa braucht neue Strategien für ein internationales System im Umbruch. Der „Universalismus“ (S. 31) ist untauglich. „Westliches Primat und missionarisches Handeln werden vom `Rest` der Welt nicht mehr akzeptiert.

Die beiden Autoren Shairee Malhotra und Samir Saran befassen sich in ihrem Beitrag “Harte Wahrheiten für Europa“ (S. 38) mit der Europäischen Union (EU). Sie kommt nicht besonders gut weg. „Obwohl die EU selbst ein realpolitischer Akteur ist, gesteht sie dem Rest der Welt nicht zu, interessengeleitet zu agieren“ oder „souveräne Staaten zu belehren, statt mit ihnen in den Dialog zu treten, ist nicht hilfreich“, wird festgestellt.  In Bezug auf den Krieg in der Ukraine, gehen sie davon aus, dass die Länder des Globalen Südens gegen den Krieg sind. Sie leiden am meisten unter den zerstörerischen Auswirkungen, im Blick auf Nahrungsmittel, Treibstoff und Dünger. Europa muss im ständigen Dialog mit den Ländern bleiben und nicht nur, wenn es etwas von ihnen will.

Shoba Suri legt den Finger auf die Wunde der historischen Schuld der Erderwärmung, durch den Globalen Norden, dessen Last nun der Süden zu tragen hat. Der Norden muss bei den Emissionseinsparungen stärker vorangehen. Die Zeit für Klimagerechtigkeit ist längst gekommen. Finanzielle und technische Unterstützung bedürfen vor allem benachteiligte Gruppen. Diese müssen in Entscheidungsprozesse einbezogen und nicht ausgegrenzt werden. Sie fordert, internationale Vereinbarungen, z.B. das Pariser Klimaschutzabkommen, müssen eingehalten werden.

Der letzte Aufsatz der Titelthemen ist Joseph Chinyong Liow vorbehalten. Er fragt, wie Europa seine Attraktivität für den Globalen Süden steigern kann. Sein Blick fällt dabei auf Chinas und Russlands Erfahrungen. In Lateinamerika und in Afrika wird der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ambivalent betrachtet. In manchen Staaten wird nicht vom Krieg gesprochen, sondern der von Russland verwendete Terminus „militärische Spezialoperation“ verwendet. Das macht den russischen Einfluss deutlich. Auch China hat seinen wirtschaftlichen Einfluss massiv verstärkt. Peking ist der größte Handelspartner in beiden Regionen, chinesisches Kapital ist relativ leicht verfügbar. China verfolgt eine klare politische und wirtschaftliche Strategie. Russland, meint der Autor, fehlt da noch die „Blaupause“.

Nach den Titelthemen folgen acht Aufsätze, die unter der Überschrift Weltspiegel zusammengefasst sind. Ohne auf die Einzelthemen einzugehen befassen sich die Autoren mit der internationale Politik Frankreichs, Deutschlands, Künstlicher Intelligenz, der Ukraine, den USA, Russland, China und den Taliban in Afghanistan.  

Der britische Historiker und Publizist Timothy Garton Ash ist Autor des Buches: Europa. Eine persönliche Geschichte. Eine Rezension ist auf S. 125 veröffentlicht. Der Essay Das postimperiale Imperium (S. 98-105) stützt sich auf das Buch. Diese Abhandlung befasst sich mit den Veränderungen Europas durch den Krieg in der Ukraine. In dem Krieg Russlands gegen das Nachbarland, sieht er den Versuch das untergegangene Imperium wieder herzustellen. Die Sowjetunion war eine Fortsetzung des Imperiums. Andere Beispiele für neoimperiales Veralten sind Transnistrien, Tschetschenien, Abchasien und Südossetien. Der Westen hat auf diese geopolitischen Herausforderungen nicht reagiert, er war durch den Zerfall Jugoslawiens, die friedliche Trennung der Tschechoslowakei, abgelenkt. 1989 gab es neun Einzelstaaten östlich des Eisernen Vorhangs, heute sind es 24.

Momentan findet der größte Krieg in Europa seit 1945 statt. Hatte der Philosoph Heraklit (* um 520- 460 v.Chr.) recht mit seiner Weisheit „Der Krieg ist der Vater aller Dinge“? Die NATO hat mit Finnland als 31. Mitglied eine über 1300 Kilometer lange Grenze zu Russland bekommen. Über kurz oder lag wird auch Schweden der Atlantischen Allianz angehören. Eine entscheidende Frage der Zukunft wird sein, wohin soll sich die Europäische Union (EU) entwickeln? Integration oder Imperium ist die Frage. Integration beschreibt einen fortwährenden Prozess und keinen Endzustand. Ob es Europa gelingen wird mit der ausgerufenen Zeitenwende Heraklit zu widerlegen, kann auch der Essay-Autor nicht beantworten.

Dem Projekt: „Zeitenwende on tour“, den Veranstaltungen der Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) ist das eine SPECIAL gewidmet. Im Herbst 2022 gestartet, geht es bei der Tour um den Diskurs mit den Bürgern in Orten der Republik von Nord nach Süd und von Ost nach West. Partner der Tour ist auch die Gesellschaft für Sicherheitspolitik mit ihren Sektionen. Präsident Hans-Peter Bartels fordert in einem Beitrag eine neue Wehrhaftigkeit der Demokratie.

Das zweite SPECIAL befasst sich mit der Bedrohung der Demokratien durch Autokraten und Populisten. Als Titelcover ist die Erstürmung des Kapitols am 6. Januar 2021 gewählt worden. Die Thematik eröffnet das Heft mit einem Interview von Carlo Masala. „Ich halte unsere Gesellschaft für nicht besonders wehrhaft“, meint der Lehrstuhlinhaber für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München.

Insgesamt bieten die drei Magazine mehr als genügend Lesestoff. Die Beiträge regen zum Nachdenken an. Mit manchen Inhalten der Artikel wird der Leser nicht einverstanden sein, bei anderen wird er zustimmen, weil sie seine Meinung wiedergeben. Wenn sie insgesamt helfen, die Resilienz für eine wehrhafte Demokratie zu stärken, dann haben sie ihren Zweck erfüllt.  

INTERNATIONALE POLITIK. Das Magazin für globales Denken, Ausgabe #4/2023 Juli/August: Bitte wenden - Für eine neue Sicht auf den Globalen Süden.
Special: Reden mit der Republik und Demokratien unter Druck

Sie finden die Titel unter www.internationalepolitik.de


 

 

 

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